tIR Spotlight No. 2 : BORDER AREAS, INTERVIEW MIT VOLKER KREIDLER

Fotos: Volker Kreidler, Interview: Sofia Bergmann

Volker Kreidler fotografiert seit über 30 Jahren in Osteuropa. Seine jüngste Serie ‚Border Areas‘ versucht, das Leben der Menschen an der polnischen und ungarischen Grenze zur Ukraine einzufangen. Das Projekt begann im Oktober 2021 und dauerte bis März 2022, kurz vor der russischen Invasion. Im September 2022 konnte er zurückkehren, begleitet von seiner jetzigen Kollegin Anastasiia Kuznietsova, einer ukrainischen Fotografin, die nach Berlin geflohen ist.

Kreidlers Fotos sind nicht reißerisch und zeigen nicht das Bild der Ukraine, das wir in den Medien sehen. Obwohl einige Elemente des Krieges sichtbar sind, konzentriert er sich auf die ungeschönte Darstellung der Realität. Die Serie besteht aus einer Mischung von Straßen- und Landschaftsfotografien aus diesen Regionen und soll nicht nur zeigen, wie diese Orte aussehen, sondern auch die komplexen Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt sowie ihr Zusammenleben visualisieren.

Für unsere zweite tIR-Spotlight-Serie haben wir Kreidler getroffen, um mit ihm über seine Arbeit und ‚Border Areas‘ zu sprechen.

Ihr könnt hier einfach nicht fotografieren, die sind alle super nervös. Die denken sofort, ihr seid russische Spione. Du weißt nicht, wer eine Waffe im Keller hat.

tIR: Volker, kannst du uns zunächst erzählen, wie du zur Fotografie gekommen bist und welche Themen dich bisher am meisten interessiert haben? Was hat dich dazu bewogen, so viel in Osteuropa zu arbeiten?

Volker Kreidler: Ich fotografiere im Prinzip seit 140 Jahren. Mein Vater war Fotograf, mein Großvater, mein Urgroßvater. Wir machen das seit 1880 und ich bin quasi im Fotolabor aufgewachsen, das ist kein Witz. Und bei uns gab es nur Fotografie. Es gab ein Fotogeschäft in der schwäbischen Provinz, da war meine Mutter drin. Mein Vater war meistens weg und hat irgendwas fotografiert. Ich dachte, das will ich auch machen, weil ich das Medium eigentlich total interessant fand, aber nicht als Künstler, sondern als Fotograf. Ich habe dann bei meinem Vater eine Ausbildung gemacht, das ist aber voll in die Hose gegangen und war dann Anfang der 80er Jahre viel in Stuttgart und habe da richtig Werbung gemacht. Damals fuhren die Fotografen in Porschenwagen, das waren gute Zeiten.

Als 1989 die Wende kam, war das für uns Fotografen wie ein Film. Es war das gleiche Land, die gleiche Sprache, aber es war irgendwie anders. Es war natürlich so, dass alle die ehemalige DDR fotografieren wollten. Und ich bin mit einem Freund nach Dresden gefahren, wir wollten Architektur aus den 30er Jahren fotografieren. Und ich habe das Deutsche Hygiene-Museum fotografiert. Der Direktor hat dann gesagt: ‘Bleib doch hier, wir haben hier im Museum ein ehemaliges Studio, so 600 Quadratmeter, das kannst du haben’. Der Direktor ging dann 1991 nach Kiew und kam zu mir und sagte: ‘Du musst unbedingt nach Kiew, das ist total abgefahren. Wir müssen irgendein Projekt machen.’ Dann haben wir gedacht, ok, Tschernobyl. Dann bin ich nach Kiew geflogen. Das war mein erstes Osteuropa-Projekt. Seitdem mache ich fast nur noch das.

Deine jüngste Serie ‚Border Areas‘ dokumentiert den Alltag in den ukrainischen Grenzgebieten vor und während des Krieges. Wie ist dieses Projekt entstanden? Was war das Ziel des Projekts?

Ich mache seit 30 Jahren ähnliche Sachen, es geht eigentlich um soziale Topographie. Also die Wechselwirkung zwischen Stadt und Mensch und Gesellschaft.

Im Prinzip geht es mir darum, dem Betrachter zu vermitteln, nicht wie es dort aussieht, sondern wie so ein System, wie so ein Land, wie so eine Stadt funktioniert. Darum geht es eigentlich – ich vermittle, ich mache keinen Journalismus. Border Areas war ein gemeinsames Projekt von mehreren Universitäten aus verschiedenen Ländern, die zeigen wollten, wie die Menschen in diesen Grenzgebieten leben. Die Wissenschaftler haben in ausgesuchten Städten Interviews geführt, zwei an der polnisch-ukrainischen Grenze, zwei an der ukrainisch-ungarischen Grenze.

Und dann ist Anastasiia später mitgekommen?

Genau, die Nastya [Anastasiia] ist im Prinzip ein Kriegsflüchtling und die arbeitet jetzt bei mir. Also, ich habe darauf bestanden, einen ukrainischen Fotografen mitzunehmen, weil ich nicht will, dass es so ist, wie es oft ist, dass dann irgendwelche Westeuropäer hinfahren und irgendwas machen. Ich bin im September noch mal hingefahren und dann ist sie mitgekommen.

Gibt es Momente, Emotionen, Orte oder Menschen aus dieser Serie, die du nie vergessen wirst?

Nastya ist eine Woche nach Kriegsbeginn nach Berlin geflohen und wir sind über die Grenze gefahren. Kaum waren wir über die ukrainische Grenze, brach sie komplett zusammen.

Ich war in Lviv, die ganze Stadt war voller Soldaten und ich habe mich schon gewundert, weil alle jungen Leute in Kampfuniformen waren, die waren alle so 17, 18, 19 Jahre alt. Eine Stunde später kam ein Bus, die Soldaten wurden reingesteckt und dann sind sie ganz langsam durch die Stadt gefahren. Die Leute, die da rumstanden, sind alle auf die Knie gefallen. Ich bekomme jetzt Gänsehaut. Es gab so viele Situationen – bei meinem ersten Luftalarm lag ich im Hotel im Bett.

Bist du dann aufgewacht und in den Keller gegangen oder hast du gewartet?

Ich ging runter und sie sagten: „Volker, was ist los?“ „Luftalarm“, sagte ich. „Kein Problem, geh wieder ins Bett.

Was hast du aus “Border Areas” gelernt oder mitgenommen, das sich von früheren Projekten unterscheidet?

Der Hauptunterschied ist, dass die Fotos, die ich dort gemacht habe, in einer gefährlichen Kriegssituation entstanden sind. Nastya war einmal wirklich in Schwierigkeiten. Die Polizei hat sie [in Uzhgorod] verfolgt, sie ist in einen Supermarkt geflüchtet und dann wurden wir beide verhaftet. Die wollten uns natürlich nichts Böses, aber sie haben gesagt: „Ihr könnt hier einfach nicht fotografieren, die sind alle super nervös. Die denken sofort, ihr seid russische Spione. Du weißt nicht, wer eine Waffe im Keller hat.“

Hat sich dadurch deine Rolle als Fotograf vielleicht ein bisschen verändert?

Nein, ich mache dasselbe wie vorher. Man muss natürlich aufpassen, das hat mit Respekt zu tun. Du musst dich so verhalten, dass du nicht irgendwie in ihre Sphäre eindringst. Du musst also anders arbeiten.

Du fotografierst auf eine Weise, die kein Detail auslässt und oft aus einer Distanz heraus, die auch die umgebenden Elemente mit einbezieht. Kannst du uns mehr über deine fotografischen Methoden erzählen?

Ich komme aus der [Andreas] Gursky Schule. Früher wollte man große Bilder machen: Maximale Information, die ganze Realität drauf. Das hat sich im Laufe der Jahre geändert. Ich persönlich gehe immer näher ran. Früher habe ich auch keine Menschen fotografiert.

Das passt auch zu dem, was du vorhin gesagt hast: Alltag zeigen, nicht nur Krieg.

Das Problem war: Als ich das erste Mal dort war, war das Land normal. Als ich das zweite Mal dort war, im September 2022, gab es Krieg. Aber in den Orten in der Westukraine, wo ich war, gab es keinen Krieg. Und ich bin wirklich verzweifelt herumgelaufen, weil ich einen Unterschied fotografieren wollte. Aber es gab keinen! Es war sogar besser, denn es war Sommer und alle waren draußen und es war warm. Und ich dachte, was soll ich fotografieren? Ich wollte die Bunker fotografieren, aber das ist so ein Klischee. Also habe ich fotografiert, was da war, und das war normales Sommerleben.

Was sind einige deiner Frustrationen mit der Fotografie heute? Auf welche zukünftigen Projekte freust du dich?

Ich habe immer fünf oder sechs Projekte, an denen ich arbeite, ich fahre demnächst nach Athen und mache dort ein Buchprojekt. Dann gibt es ein Projekt über meine Familiengeschichte, über die ganzen Fotografen in meiner Familie. Ich habe über 400.000 Glasplatten aus der Zeit und die will ich eigentlich irgendwie aufbereiten und will quasi die Realität von damals vor hundert Jahren, die es nicht mehr gibt, mit KI nachbilden.

Die Frustration ist eigentlich immer die Kohle. Die zahlen nicht mehr richtig, das ist irgendwie lächerlich. Da kannst du froh sein, wenn du die Fahrtkosten drin hast.